Ein persönliches Zeugnis von Dr. Arnold G. Fruchtenbaum
Viele Leser dieser Worte werden schon früher Zeugnisse von Christen gehört haben darüber, wie Menschen dazu kamen, sich mit der Frage nach Jesus Christus auseinanderzusetzen. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen dem Zeugnis eines nicht jüdischen und dem eines jüdischen Christen. Nicht jüdische Christen fangen dabei oft mit ihrer eigenen Kindheit oder noch früher mit dem Glauben ihrer Vorfahren an. Doch das Zeugnis eines jüdischen Christen beginnt in einer viel weiter entfernten Vergangenheit.
Wenn ein Jude dem messianischen Anspruch Jesu begegnet, dann ruft das Probleme und Fragen hervor, deren Ursprunge viele Jahrhunderte weit zurückreichen. Jedes judenchristliche Zeugnis muß eigentlich damit anfangen, daß man die Worte Jesu liest, die im Lukasevangelium Kapitel 19, Vers 41-44, berichtet werden:
„Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“
Und in Lukas 21,24 lesen wir:
„Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gegangen weggeführt werden unter alle Völker, und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis die Zeiten der Heiden erfüllt sind.“
Vierzig Jahre, nachdem Jesus dies angekündigt hatte, marschierten die römischen Legionen ins Land ein, und nach zweijähriger Belagerung Jerusalems eroberten sie die Stadt und zerstörten den Tempel. Das Volk der Juden wurde über die ganze Welt zerstreut. Von da an beginnt in der jüdischen Geschichte die Zeit der Diaspora oder Zerstreuung. Die Juden wurden tatsächlich in alle Welt vertrieben, und es folgten die Jahrhunderte ihrer Verfolgung. Sie mußten nicht nur ihr eigenes Land verlassen, sondern man zwang sie auch immer wieder, von einem Ort zum anderen und aus einem Land ins andere zu fliehen. Die jüdische Geschichte wurde seit dieser Zeit eine Geschichte der ständigen Flucht vor antisemitischen Verfolgern. Sobald sie in einer Ecke Europas eine Bleibe gefunden hatten, stand dort ein antisemitischer Herrscher auf und brauchte seine Macht dazu, die Juden gewaltsam aus dieser Gegend zu vertreiben, so daß sie sich irgendwoanders wieder eine neue Heimat suchen mußten. Damit wurden die Worte Moses buchstäblich erfüllt, wonach die Juden unter alle Völker der Erde zerstreut werden sollten.
Eine der großen Tragödien der Judenverfolgung in der Diaspora ist es, daß praktisch das meiste davon seit etwa dem vierten Jahrhundert im Namen Jesu Christi geschah. Weil so vielen Juden ihr Leid im Namen Jesu und im Namen des Kreuzes zugefügt wurde, hat sich im Empfinden des jüdischen Volkes eine so große Barriere zwischen „uns“ und „ihnen” aufgebaut. Letztere sind die Heiden oder Christen (für einen Juden sind diese beiden Begriffe synonym), die einen Gott verehren, der Jesus heißt, und in dessen Namen verfolgen und töten sie die Juden. Das wurde zum entscheidenden Hindernis für die Verbreitung des Evangeliums unter den Juden.
Die Frommen von Polen
Vor dem ersten Weltkrieg öffnete Polen seine Grenzen für jüdische Fluchtlinge aus allen Teilen Europas, die der Verfolgung entkommen wollten. Gegen Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts kamen zuerst Tausende und schließlich Millionen von Juden nach Polen. Als der erste Weltkrieg begann, bestand die jüdische Gemeinde in Polen aus etwa drei Millionen Menschen und war damit die größte in der Welt. Unter den polnischen Juden gab es schon länger eine religiöse Sekte, die sich nun mehr und mehr ausbreitete, bis sie am Ende das ganze Judentum durchdrang. Diese Leute wurden bekannt als die Chassidim (wörtlich “die Frommen“), die Ultra-Orthodoxen. Man konnte sie stets in ihren schwarzen Gewändern mit großen Pelzmützen sehen, sie trugen lange Bärte und Schläfenlocken – ihre traditionelle Tracht. Sie hielten sich für die theologischen Nachkommen der Pharisäer aus der Zeit des Neuen Testaments und setzten sich für eine strenge Einhaltung des mosaischen Gesetzes wie auch der rabbinischen Überlieferungen aus den früheren Jahrhunderten ein. Nachdem ihr Gründer gestorben war, spaltete sich die chassidische Bewegung in mehrere Gruppen auf, entsprechend ihrer geographischen Zugehörigkeit. Eine solche Gruppe wurde von einem Mann geleitet, den man Rebbe nannte und der etwas Ähnliches wie ein Rabbiner war. Die Macht eines Rebbe war aber viel größer als die eines Rabbiners und ging mit der Geburt vom Vater auf den Sohn über.
Die Leitung einer dieser Gruppen, bekannt als die Satmarer Chassidim, ging in die Hände der Fruchtenbaum-Familie über. Mein Großvater, vor ihm sein Vater und dessen Vater waren Leiter dieser orthodoxen Gruppe. Ich möchte ihnen ein Beispiel dafür geben, wieviel Zeit mein Großvater mit dem Schriftenstudium zubringen mußte, ehe er Leiter werden konnte. Im Alter von 13 Jahren hatte er die 5 Bücher Mose auf Hebräisch auswendig gelernt, mit 18 Jahren konnte er das ganze hebräische Alte Testament auswendig. Als er 21 Jahre alt war, machte er eine abschließende Prüfung. Sie bestand darin, daß er eine hebräische Bibel erhielt, ein sehr dickes Buch. Jemand anders zeigte dann mit dem Finger auf eine Stelle auf dem Deckel der geschlossenen Bibel und an dieser Stelle wurde ein Nagel in das Buch eingeschlagen. Mein Großvater mußte dann aus dem Gedächtnis angeben, durch welches Wort auf jeder einzelnen Seite in der richtigen Reihenfolge der Seitenzahlen der Nagel hindurchgedrungen war. Das ist eine gute Methode, um die Bibel zu lernen! Der Grund für ein so rigoroses Auswendiglernen bestand darin, daß die Bibel in dieser Gruppe die Grundlage für alles Lernen und Studieren darstellte. Den Rest seines Lebens verbrachte mein Großvater mit dem Studium der prophetischen Kommentare und Überlieferungen der jüdischen Väter. Aber was er las, konnte er nie selbständig beurteilen. Sein Verständnis dafür war lange vor ihm durch die rabbinischen Lehren festgelegt worden. So wich er nicht ab von allem, was die früheren Rabbinen über die Bedeutung dieses und jenes Wortes gesagt hatten. Obwohl er die Bibel so gut kannte, war er doch nicht imstande zu erkennen, daß Jesus der Messias ist.
Von Zeit zu Zeit tauchen neue Fragen auf, die von Mose oder den Rabbinen noch nicht behandelt worden sind Hier muß der Schriftkundige neue Gesetze und Vorschriften für die jüdische Gemeinschaft aufstellen. In der neuen Welt Amerikas entdeckte man Dinge, die dann nach und nach auch in Europa weiter verbreitet wurden. So kamen nach dem ersten Weltkrieg in manchen Gegenden Polens zum erstenmal Tomaten auf den Markt. Aber Mose hatte den Juden nicht gesagt, ob Tomaten koscher sind. Konnte ein Jude Tomaten essen und dabei die jüdischen Speisevorschriften richtig einhalten? In der jüdischen Gruppe erhob sich also eine große Debatte über Tomaten. Es gab eine Pro-Tomaten-Partei und eine Anti-Tomaten-Partei, und schließlich sandten beide Seiten eine Delegation zu meinem Großvater. Er empfing die Delegierten, hörte sich die Argumente beider Seiten an und bat sie, in einer Woche wiederzukommen. Dann kaufte er sich einige Tomaten, schnitt sie in verschiedenen Größen auseinander, sah sich ihre Farbe, Schale, Samenkörner und den Inhalt an. Er studierte seine rabbinischen Schriften und Überlieferungen. Als die Delegation nach einer Woche wieder bei ihm vorsprach, hatte er entschieden, daß Tomaten koscher seien und daß man sie mit Genuß essen darf. Seitdem essen die europäischen Juden ohne Bedenken Tomaten.
Seine strenge Orthodoxie trug schließlich zu seinem Tode bei. Es war am heiligsten Tag des jüdischen religiösen Kalenders, an Jom Kippur, dem Großen Versöhnungstag. als man bei ihm eine Blinddarmentzündung feststellte. Wegen der Heiligkeit dieses Tages lehnte er jede medizinische Behandlung ab, ehe nicht die vollen 24 Stunden des Jom-Kippur-Tages vorüber waren. Bis dahin war aber der Blinddarm durchgebrochen, und an demselben Abend starb er.
Mein Vater
Mein Vater Henry (Chaim) Fruchtenbaum war der erstgeborene Sohn in einer langen Reihe von erstgeborenen Söhnen. und er wuchs auf in der polnischen Stadt Pultusk. Beim Tode meines Großvaters war mein Vater 3 Jahre alt. Er wurde von seinem Großvater erzogen, der praktisch zu seinem neuen Vater wurde. In dieser Familie waren 12 andere Kinder, teils älter, teils jünger. Obwohl sie alle seine Onkel und Tanten waren, verstanden sie sich untereinander als Geschwister. Auch der Großvater meines Vaters, Baruch Simcha Fruchtenbaum, starb an Jom Kippur im Jahre 1937, als mein Vater 18 Jahre alt war.
Ebenso wie sein Vater wurde auch mein Vater darauf vorbereitet, die Leitung der chassidischen Gruppe zu übernehmen. Er mußte sich demselben Schulungsprogramm wie mein Großvater unterziehen. Außerdem kam er in eine Ausbildung als Photograph. Sein Schriftstudium mußte jedoch am 1.9.1939 abgebrochen werden, als die Deutschen in Polen einmarschierten und damit der Zweite Weltkrieg ausbrach.
Mein Vater hatte so etwas wie einen 6. Sinn für tödliche Gefahren. Als die Deutschen Polen besetzten, ahnte er, daß die Juden in Gefahr waren. Er beschloß, nach Rußland zu gehen, und bat die anderen Familienmitglieder, mit ihm zu kommen. Aber niemand hörte auf ihn, und so floh mein Vater ganz allein. Als die anderen merkten, wie recht er gehabt hatte, war es zu spät. Nachdem der Holocaust vorüber war, waren 7 der 13 Verwandten mit ihren Ehegatten und Kindern umgekommen: einige im Warschauer Ghetto, einige in Auschwitz, einige im Ponary-Wald bei Wilna, die meisten in Treblinka. 6 Verwandte überlebten, und davon zogen 5 mit ihren Familien nach Israel, während mein Vater später in die USA übersiedelte.
Die Flucht nach Rußland rettete zwar sein Leben, aber sie brachte ihn in große Not. Die Russen hatten mit den Juden nicht mehr Mitleid als die Deutschen. Obwohl mein Vater ein Jude war, wurde er von den Russen kurz nach dem Grenzübertritt beschuldigt, ein Nazispion zu sein. Man nahm ihn fest und brachte ihn in ein Konzentrationslager in Sibirien, wo er die folgenden zwei Jahre seines Lebens zubringen mußte.
1941 brachen die Deutschen ihren Pakt mit Stalin und griffen die Sowjetunion an. Damit begann eine neue Phase des Krieges. Jetzt brauchten die Russen die Unterstützung der polnischen Exilregierung, die sich in England aufhielt. Die Polen sagten ihre Unterstützung zu unter der Bedingung, daß alle polnischen Staatsangehörigen aus den russischen Konzentrationslagern entlassen würden. Da mein Vater Pole war, kam er also frei. Aus dem gleichen Grunde wurde damals auch Menachem Begin aus dem russischen Gefängnis entlassen. Aber weil die Deutschen damals weite Gebiete im europäischen Rußland besetzt hatten, beschloß mein Vater, bis zum Ende des Krieges in Sibirien zu bleiben. Doch er mußte von etwas leben, und Arbeitsplätze gab es nicht. Da war es gut, daß er zuvor den Beruf eines Photographen gelernt hatte. Der Krieg und Stalins Massendeportationen seiner eigenen Bevölkerung führten zu einem großen Bedarf an Fotos für Pässe und andere offizielle Dokumente. Jedermann brauchte Bilder, und mein Vater hatte damit ein stetiges Einkommen. Bei seiner Arbeit lernte er dann auch meine Mutter kennen. Auch sie war gezwungen worden, nach Sibirien umzusiedeln, und brauchte Bilder für amtliche Papiere. Einige Monate später heirateten sie, und am 26. September 1943 wurde ich in Tobolsk geboren. Ich erhielt den russischen Namen Aritschek Genekowitsch Fruchtenbaum.
Im Laufe der Zeit ging die Nachfrage nach Bildern zurück, und das Einkommen reichte nicht mehr aus zum Leben. Wenn man Geld hatte, so war das auch noch keine Garantie, daß man dafür etwas. kaufen konnte. So mußte man auf andere Weise nach Nahrungsmitteln suchen, und mein Vater verfiel auf eine Methode, die sonst bei Juden nicht üblich ist: die Jagd. Das bedeutete in mindestens einem Fall, daß wir Igelfleisch essen mußten – ein nicht gerade koscheres, übliches Mahl in einem jüdischen Hause!
Polnische Pogrome
Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende, und den polnischen Staatsangehörigen in der Sowjetunion wurde erlaubt, nach Polen zurückzukehren. Weil dort inzwischen eine kommunistische Regierung herrschte, war nicht zu befürchten, daß es dadurch ideologische Probleme geben würde. So begaben sich meine Eltern auf den weiten Weg zurück in die polnische Heimat meines Vaters, und mich nahmen sie mit, obwohl ich eigentlich infolge meiner Geburt in Rußland ein Russe war. Zu dieser Zeit war ich drei Jahre alt. Unsere Reise führte uns auch durch die Ukraine, und hier erkrankte meine Mutter an Typhus und kam ins Krankenhaus. Wieder hatte mein Vater nach einem Lebensunterhalt für seine Familie zu suchen. Das zwang meine Eltern, mich in ein Waisenhaus zu geben. Obwohl die Ukraine eigentlich eine Kornkammer in der Sowjetunion war, gab es dort in den Nachkriegsjahren eine Hungersnot. Überall gab es nur wenig zu essen, so daß für ein Waisenhaus nichts mehr übrig blieb. Täglich starben Kinder vor Hunger, und Tag für Tag mußten ihre toten Körper beseitigt werden. Aber am Abend eines jeden Tages kam mein Vater mit zwei Scheiben Brot für seinen Sohn. Obwohl ich dabei bis zu Haut und Knochen abmagerte, konnte ich doch durch den Einfallsreichtum und die Fürsorge meines Vaters überleben.
Schließlich wurde meine Mutter wieder gesund, und wir kamen endlich in Polen an. Mein Vater traf mit einem seiner Brüder und drei Schwestern zusammen, die den Holocaust überlebt hatten. Eine Schwester hatte ihren Mann verloren, und der Bruder hatte seine Frau und sein einziges Kind eingebüßt. Ein weiterer Bruder hatte es geschafft, während der Kriegsjahre nach Israel auszuwandern. Wir wollten in Polen bleiben und zogen in ein jüdisches Ghetto, das überwiegend von römisch-katholischen Christen umgeben war. Dort blieben wir ein Jahr.
Einige Monate nach unserer Ankunft war es Zeit, unser erstes Passahfest seit dem Kriegsausbruch zu feiern, Passah 1947. Es war außergewöhnlich wichtig und bedeutungsvoll, denn wir hatten sowohl die Erlösung aus Ägypten als auch unsere Errettung von den Deutschen zu feiern. Und so freuten wir uns ganz besonders auf das Fest. Während der acht Feiertage dürfen wir nur ungesäuertes Brot essen, und nichts ist zu essen erlaubt, was Sauerteig enthält. So waren unsere Mütter damit beschäftigt, das Brot für die Zeit des Passahfestes zu backen. Zur selben Zeit wurde ein kleines, 3 Jahre altes römisch-katholisches Kind vermißt. Da verbreiteten die Katholiken das Gerücht, daß die Juden das Blut eines Christen brauchten, um ihr ungesäuertes Brot zu backen. Sie beschuldigten uns, den Jungen entführt und in einem Ritualmord getötet zu haben, um sein Blut für das Brot zu verwenden. Dieses Gerücht verbreitete sich über ganz Polen. Als wir in der Passahnacht beieinander saßen, um zu essen, formierte sich draußen auf der Straße der Mob, angeführt von der Polizei und dem Klerus der katholischen Kirche. In ganz Polen griff der Pöbel die jüdischen Ghettos an einschließlich desjenigen, in dem wir wohnten. Überall im Land wurden in dieser Passahnacht 1947 Tausende von Juden im Namen Jesu Christi von den Polen ermordet. Unter diesen Verhältnissen hörte ich zum erstenmal den Namen Jesus Christus – nicht als Namen eines Menschen, der kam, um für mich zu sterben, sondern als einer, für den beinahe ich hätte sterben müssen. Als der Mob in die Türen der jüdischen Häuser einbrach, standen Priester dabei und schwenkten ihre Kreuze. Bevor ein Jude getötet wurde, riefen sie (auf Polnisch) den üblichen Spruch: „Ihr habt Christus getötet, und darum werden wir euch töten!“ In diesen Worten hörte ich zum erstenmal etwas von Christus.
Aufgrund dieses Erlebens wuchs später eine Barriere in meinem Denken, wie bei so vielen anderen Juden, zwischen „uns“ und „ihnen“, den Christen oder Heiden. Der einzige Jesus, von dem ich wußte, war ein haßerfüllter, mörderischer Jesus so, wie er von der christlichen Kirche repräsentiert wurde, aber nicht der wirkliche Jesus des Neuen Testaments.
Die Flucht aus Polen
Ein Gutes hatte der Aufruhr in Polen, und das war die Arbeit der israelischen Untergrundbewegung. Als die Israelis erfuhren, was in Polen geschehen war, entwickelten sie einen Plan, um so viele Juden wie möglich von hinter dem Eisernen Vorhang herauszuholen Sie machten sich an die polnische Grenzpolizei heran und bestachen sie. So kam es zu einem „Übereinkommen“, daß in einem Zeitraum von 30 Tagen alle Juden die polnische Grenze ungehindert passieren durften.
Meine Eltern hörten durch die Untergrundbewegung davon und entschlossen sich, diese Gelegenheit zu nutzen. Um kein Aufsehen zu erregen, benützten wir keine öffentlichen Verkehrsmittel. Wir trugen auf dem Rücken, so viel wir konnten, schlossen uns einer Gruppe anderer Juden an und machten uns auf den viele Meilen weiten Fußmarsch zur Grenze. Als wir schließlich dort ankamen, wurden wir von der Grenzpolizei angehalten. Wir wiesen uns als Juden aus, und die Polizisten nahmen ihre Waffen auf den Rücken, drehten sich um und begannen, die Vögel am weit entfernten Horizont zu beobachten. Sie ignorierten uns vollständig. und so konnten wir ohne weiteres in die Tschechoslowakei überwechseln.
Später bekam ich heraus, was unser Grenzübertritt gekostet hatte. Es war nicht mehr als ein paar Stangen amerikanische Zigaretten. Diese waren in Osteuropa damals außerordentlich beliebt und kostbar. Eine Stange Camel-Zigaretten reichte aus, um die Freiheit einer jüdischen Familie zu sichern. Während Zigaretten das Leben vieler Menschen gefährden, retteten sie mir ohne Zweifel das Leben, und das war ein Tag, an dem auch ich „meilenweit für eine Camel“ gelaufen bin.
Für die nächsten paar Stunden befanden wir uns im Niemandsland zwischen Polen und der Tschechoslowakei, bis der israelische Untergrund Kontakt mit uns aufnahm, uns zusammentrommelte, als Fußgängertrupp organisierte und uns dann in Richtung auf die österreichische Grenze in Bewegung setzte. Auch hier war die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für uns gefährlich, und so wanderten wir mehrere Wochen lang durch die tschechoslowakischen Wälder. Einen Tag, bevor wir an der Grenze nach Österreich ankamen, war die Regierung der Tschechoslowakei gestürzt worden, und die Kommunisten hatten die Macht übernommen. Sie lösten sofort die tschechischen Grenzposten ab, die bereits vom israelischen Untergrund bestochen worden waren, und ersetzten sie durch russische Posten, mit denen es natürlich kein Abkommen gab. Die Israelis befahlen uns, still zu bleiben, während sie zur Grenze gingen, um die Lage zu prüfen. Sie erfuhren, daß die Russen strengen Befehl hatten, niemanden durchzulassen mit Ausnahme von griechischen Staatsangehörigen, die aus deutschen Konzentrationslagern in ihre Heimat zurückkehrten. Als unsere Späher in unser Versteck zurückkamen, ordneten sie an, daß wir alles verbrennen sollten, was unseren Namen an sich trug. In dieser Nacht gingen unsere Pässe, Geburtsurkunden und alles weitere mit unserem Namen in Flammen auf. Am nächsten Morgen wurden wir unterwiesen, als Griechen aufzutreten und zur Grenze mit ihren russischen Kontrollposten zu gehen. Niemand unter uns war Grieche, keiner sprach ein einziges Wort Griechisch … aber das konnten auch die Russen nicht! So konnten sie uns keine Fragen auf Griechisch stellen, und wir konnten ihnen auch nichts auf Griechisch antworten. Sie mußten einfach annehmen, daß wir Griechen waren. Mit dieser Lüge überschritten wir alle die österreichische Grenze, alle bis auf einen Mann vom israelischen Untergrund, der im allerletzten Moment noch erschossen wurde. Alle anderen aus der Gruppe kamen sicher über die Grenze. Seitdem habe ich das Wort aus Römer 1,16 in besonderer Weise auf mich anwenden können: Ich war zuerst ein Jude, aber dann auch ein Grieche – einen Tag lang!
Als wir in Österreich waren, übernahm uns die amerikanische Militärpolizei vom israelischen Untergrund und geleitete uns durch Österreich nach Westdeutschland. Dort taten sie etwas, was sie damals lieber nicht hätten tun sollen: Sie überstellten uns der britischen Militärpolizei. Die Folge davon war, daß wir die nächsten fünf Jahre in Lagern für zwangsumgesiedelte Personen (Displaced Persons) in verschiedenen Gegenden Deutschlands zubringen mußten. Wir sollten nicht nach Palästina auswandern, weil damals die Juden in Palästina gegen die Engländer um ihre Unabhängigkeit kämpften. Darum sorgten die Engländer dafür, daß alle Juden, die ihnen in die Hände kamen, in solchen Lagern festgehalten wurden. So mußten wir von einem Ort zum anderen durch ganz Westdeutschland ziehen.
Ungefähr im Jahre 1948 trat etwas ein, was für mein Leben sehr große Bedeutung erlangte. Wir verbrachten ein Jahr in einem D.P.-Lager in Ulm an der Donau, und hier geschah zweierlei, das einen Grundstein für mein späteres Lebenswerk legte. Zum einen fing mein Vater an, mich das Alte Testament zu lehren. Er las mir aus seiner hebräischen Bibel vor und übersetzte dann den Inhalt, teils in Jiddisch, teils in Polnisch. Damit erweckte er in mir eine Liebe zur Bibel, die mich niemals mehr verlassen hat. Auch als wir von einem Lager ins andere kamen, fuhr er damit fort. Mein ganzes frühes Bibelwissen kam allein von ihm. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, gab ich selbst meinen ersten Bibelunterricht und lehrte eine Gruppe jüdischer Kinder, die mich unter einem Baum umringten. Alles, was ich dabei vortrug, war eine Wiederholung dessen, was ich von meinem Vater gelernt hatte. Aber das war immer noch mehr, als sie wußten. Während meines letzten Jahres in Deutschland besuchte ich dann eine jüdische Schule in einem der Lager und stellte fest, daß ich den anderen weit voraus war.
Noch ein zweites geschah im Ulmer Lager. Damals wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, daß Jesus der Messias ist. In dem Lager arbeitete ein evangelischer Pfarrer, Theophil Burgstahler, mit seiner Tochter Hanna. Er war als Judenmissionar für die Schweizerische Evangelische Judenmission Basel tätig. Seine hauptsächliche Arbeit zu dieser Zeit bestand darin, die neu eintreffenden Flüchtlinge aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang mit Kleidung und humanitärer Hilfe zu versorgen. Von ihm erhielten wir unsere ersten Kleidungsstücke, seit wir in Westdeutschland waren. Ich weiß nicht, in welcher Sprache die Gespräche mit ihm stattfanden, denn ich war daran nicht beteiligt. Aber als er hörte, daß wir beantragt hatten, nach Amerika auszuwandern, zog er eine Zeitschrift von einer amerikanischen Judenmissions-Gesellschaft hervor, Ausgabe vom Oktober 1949. Unten auf dem Titelblatt befand sich die New Yorker Adresse dieser Mission. Er riß das Titelblatt ab und gab es meiner Mutter mit der Bitte, sich in New York an diese Adresse zu wenden, wo man uns weiterhelfen könnte. Meine Mutter verstand nicht ganz, um was für eine Organisation es sich handelte, und nahm an, es sei eine Einrichtung, die jüdischen Einwanderern in Amerika helfen würde. Das war es in der Tat, aber es war noch etwas mehr als das, und als meine Mutter das merkte, war es bereits zu spät, was mich betraf.
Nach fünfjähriger Irrfahrt durch deutsche Lager erhielten wir 1951 endlich unsere Visa für die Auswanderung nach Amerika Da verließ die Familie Fruchtenbaum, die inzwischen um einen zweiten Sohn und eine Tochter angewachsen war, Westdeutschland und traf in New York ein. Sie siedelte sich in Brooklyn an und begann in den USA ein neues Leben.
New York
Sobald meine Mutter mit Brooklyn etwas vertraut war, nahm sie das Titelblatt der Zeitschrift, das sie jahrelang aufgehoben hatte, und fuhr mit der U-Bahn nach Manhattan. Sie fand die Adresse, die sie suchte, und begegnete im Hause jemandem von der Missionsverwaltung. Aber sie sprach kein Englisch, die Anwesenden konnten weder Polnisch, Russisch, Deutsch noch Jiddisch, und so gab es nur eine sehr schlechte Verständigungsmöglichkeit. Man notierte sich ihre Anschrift und versprach, in Kürze mit ihr Verbindung aufzunehmen – was dann freilich erst sechs Jahre später tatsächlich geschah.
Während dieser sechs Jahre lebte ich in einer rein jüdischen Welt. Der Teil von Brooklyn, in dem wir wohnten, war so jüdisch, daß, er von den benachbarten Nichtjuden „Klein-Israel“ genannt wurde. In den Bezirken ringsherum wohnten Schwarze, Italiener, Portoricaner und andere Nichtjuden, von denen sich die jüdische Gemeinde stark unterschied. Da die Schulen, die ich besuchte, zu 99 % jüdisch waren, war mein Kontakt mit Nichtjuden oder Christen praktisch gleich Null. Mein Vater setzte seinen biblischen Unterricht für mich fort, aber das geschah immer seltener und hörte schließlich ganz auf. Natürlich lastete auf ihm viel Druck als Vater einer Immigrantenfamilie, der für seine Frau und drei Kinder zu sorgen hatte und noch nicht Englisch sprechen konnte. Trotzdem ließ meine Liebe zur Bibel nicht nach. Ich lernte weiter und hatte dazu viele Gelegenheiten in unserer sehr stabilen, jüdischen Umgebung in Brooklyn.
Nach sechs Jahren eröffnete die Judenmission, von der ich schon sprach, eine neue Missionsstation ungefähr eine Meile von unserer Wohnung entfernt. Irgendjemand im dortigen Büro sah all die Unterlagen durch, die sich über Jahre angesammelt hatten, und sortierte alle die Adressen aus, die sich in einem gewissen Umkreis um die Missionsstation befanden. Dann wurden Mitarbeiter ausgesandt, die uns besuchten und uns in die neue Station einluden. Nach kurzer Zeit kam jemand zu uns, und wir erhielten eine Einladung zu einer jüdisch-christlichen Zusammenkunft. Als ich diese Bezeichnung zum erstenmal hörte – „jüdisch-christlich” -, dachte ich, das sei ein totaler Widerspruch der Begriffe. Man ist entweder ein Jude oder ein Christ, aber niemals beides. Jeder, der sich einen Juden und zugleich einen Christen nennt, hat etwas Schizophrenes an sich, trägt zwei Persönlichkeiten in einer.
Aber trotzdem war in mir die Neugier erwacht, und ich beschloß, am Abend des ersten Treffens hinzugehen. Ich ging hinein in den kleinen Versammlungsraum und setzte mich hin. Je mehr ich zuhörte, umso ärgerlicher wurde ich. Es berührte mich nicht, daß hier Juden von Jesus sprachen; so viel hatte ich schon erwartet. Mich ärgerte vielmehr, daß sie dazu unsere Bibel, den Tenach (das Alte Testament), benutzten. Ich war in dem Glauben erzogen worden, daß wir Juden unsere Bibel und die Christen ihre eigene Bibel haben. Ihre Bibel sei das Neue Testament und handelt von ihrem Gott, der Jesus heißt, aber das setzt nicht voraus, daß Jesus auch in unserer Bibel vorkommt. Hier aber waren Christen, die unsere Bibel benutzten. um von ihrem Jesus zu sprechen, und das ging mir gehörig auf die Nerven. Fräulein Ruth Wardell, die mich zu dem Treffen eingeladen hatte, konnte sehen, wie ärgerlich ich war, und sie war so weise, nicht mit mir darüber zu streiten, sondern stattdessen forderte sie mich heraus.
Sie gab mir ein Neues Testament mit nach Hause und bat mich nachzusehen, ob nicht Jesus alles das getan hatte, was wir vom Messias erwarteten. Ich nahm das Neue Testament an, aber nicht weil ich dafür offen war, sondern weil ich entschlossen war, diese Schizophrenie ein für allemal als falsch zu entlarven.
So nahm ich es mit nach Hause und fing zum erstenmal an, in einem Neuen Testament zu lesen. Je mehr ich darin las, umso mehr beeindruckte mich sein jüdisches Wesen. Es war völlig anders als das, was ich erwartet hatte. Von meinem Rabbiner war ich gelehrt worden, das Neue Testament sei ganz offensichtlich ein heidnisches Buch, das sich mit Götzendienst befaßt. Ich dachte, ich würde darin lesen von großen Kirchen mit bunten Fenstern und feierlich gekleideten Priestern, die Weihrauchkessel schwenken, sich vor Heiligenbildern verneigen und dann den Leuten sagen: „Geht hin, und bringt in Jesu Namen die Juden um.“ Wir waren der Meinung, daß das Verhalten der Christen in Europa und anderswo nur aus ihrer Bibel, aus dem Neuen Testament, stammen konnte.
Doch die ersten Worte in dem Buch lauten: „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“: Wie jüdisch kann man denn noch sein? Je mehr ich darin las, desto jüdischer wurde das Buch für mich. Da gab es Rabbinen, Pharisäer, Leviten und jüdische, theologische Debatten, mit denen ich ganz vertraut war. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch für mich nicht anders als andere jüdische Bücher, die ich kannte. Alles in dem Buch unterschied sich ganz und gar von dem, was ich mir vorgestellt hatte, und das reizte mich, darin immer weiter zu lesen. Bis ich dann das Neue Testament zu Ende gelesen hatte, war ich davon überzeugt. Wenn dieser Jesus nicht der Messias Israels war, dann gab es überhaupt keinen Messias; dann hätten die Reformjuden die ganze Zeit über recht gehabt, und wir orthodoxen Juden lebten in einer Traumwelt.
An diesem Punkt hatte ich die “erste Stufe” erreicht. Es gibt viele Juden, die auf dieser Stufe ankommen; sie sind überzeugt, daß Jesus der Messias ist, aber sie kommen nicht weiter als bis dahin. Sie wagen nicht den zweiten Schritt und nehmen Jesus nicht persönlich für sich an. Sie erlauben Ihm nicht, ihr Leben zu ändern, weil sie Angst haben, ihre Freunde, ihre Familie oder ihre berufliche Stellung zu verlieren, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, und sie fürchten sich, in eine fremde und unbekannte, heidnische Welt hinausgestoßen zu werden. Auf jüdischen Friedhöfen gibt es Gräber, auf deren Grabstein Name und Geburtsdatum eines Juden stehen, und als Todestag ist das Datum angegeben, an dem dieser Jude Christ wurde.
All diese Gedanken und Ängste gingen mir durch den Kopf, als ich zum zweitenmal zur Missionsstation ging. Diesmal war ich nicht mehr ärgerlich. Ich saß mit Fräulein Wardell zusammen, die mich zum erstenmal eingeladen hatte, und wir gingen miteinander das Alte und Neue Testament durch, von Anfang bis Ende und wieder zurück. Wir studierten die Bibel und besprachen alles, was sie über den Messias lehrt. Ich wurde voll überzeugt, beugte mein Haupt, akzeptierte Jesus als meinen Messias und trat damit selbst in die Reihen der “Schizophrenen“ ein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich meinem Vater zuerst von meinem neuen Glauben erzählte, aber seine Reaktion war weder positiv noch negativ. Er dachte wohl, daß er meine Entscheidung im zarten Alter von 13 Jahren noch nicht so ganz ernst nehmen konnte. Darum hatte er auch noch nichts dagegen, daß ich in die messianischen Versammlungen ging.
Kalifornien
Ein Jahr später emigrierte unsere Familie von Brooklyn aus in das “richtige Amerika” und zog um nach Südkalifornien. Ich blieb die nächsten vier Jahre in Los Angeles, wo ich eine zu 80 % jüdische Oberschule besuchte. In dieser Zeit erlebte ich die Wahrheit der Worte Jesu, wie sie im Matthäus-Evangelium (teilweise nach dem Propheten Micha zitiert) berichtet werden (Matth. 10,34-39):
„Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“
Während der ganzen Zeit, die ich in Kalifornien war, stand mein Vater meinem christlichen Glauben mehr und mehr ablehnend gegenüber, und seine Einstellung schien sich ebenso radikal zu verändern, wie sich unsere geographische Lage verändert hatte. Er verbot mir, zu jüdischen oder christlichen Versammlungen zu gehen. In den ersten beiden Jahren verbot er mir auch irgendetwas in der Bibel zu lesen, weder Altes noch Neues Testament, und so mußte ich es heimlich tun Während meine Eltern täglich von 9 bis 17 Uhr in seinem neu eröffneten Fotogeschäft arbeiteten, ging ich zur Schule und hatte dort um 14 oder 15 Uhr Schluß. Dann ging ich schnell nach Hause und las die Bibel bis ich meine Eltern gegen 17.30 Uhr heimfahren hörte und rasch meine biblischen Unterlagen beiseite räumte. Mein Vater lehnte mein Interesse an der Bibel und am Messias ab, obwohl er es ja gewesen war, der diesen Eifer einst geweckt hatte.
Schließlich hörte er ganz auf, noch mit mir zu reden Das ganze letzte Jahr über, als ich auf der Schule war, sprachen wir kein einziges Wort miteinander, und ich mußte mich dieser totalen Schweige-“Therapie” widerstandslos unterwerfen. So etwas war in der jüdischen Kultur, in der mein Vater aufgewachsen war, nicht unbekannt. Wir wohnten im selben Haus, aßen am selben Tisch miteinander, aber zwischen uns wurde kein einziges Wort gewechselt. Etwa zwei Monate, bevor ich die Schule beendete, teilte er mir durch meine Mutter mit, daß ich sein Haus nach meiner Abschlußprüfung zu verlassen hätte. Das gab eine neue Krise in meinem geistlichen Leben. Zu dieser Zeit war ich ungefähr vier Jahre lang gläubig. Ich hatte bereits viele Probleme um Jesu Christi willen in meinem Elternhaus gehabt, und jetzt wurde ich schließlich ganz hinausgeworfen. Damals las ich gerade den Philipperbrief, und ich fand Trost in dem Vers 4,19: “Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus.” Als ich von der Schule abging, hatte ich diesen Vers und 120 Dollar in meiner Tasche, die ich mir bei einem kleinen Job in einer lutherischen Kirche verdient hatte.
Zurück nach New York
Mein Vater hatte verlangt, daß ich nicht nur sein Haus, sondern auch den Staat Kalifornien verlasse. Wenn es bekannt wurde, daß ich ein Christ geworden war, dann konnte das sein Geschäft ruinieren. So machte ich meinen Oberschulabschluß im Jahre 1962 und ging zurück nach New York. Zwei Wochen brauchte ich, um quer durch Amerika von Los Angeles nach New York zu gelangen. Als ich ankam, hatte ich nur 17 Dollar aus meiner eigenen Tasche bezahlen müssen. Zum erstenmal hatte ich erlebt, wie Gott in einmaliger Weise mit mir auf jedem Schritt der Reise war und mir Mahlzeiten, Bett, Fahrgelegenheit oder was ich sonst noch nötig hatte besorgte. Den Sommer über arbeitete ich ohne Bezahlung in einem judenchristlichen Camp. Als der September herankam, war praktisch mein ganzes Geld ausgegeben, und ich hatte nur noch 20 Dollar bei mir.
Man hatte mich zur Ausbildung an einem christlichen College für Geisteswissenschaften in New Jersey aufgenommen. Das war eine private Schule, und die Gebühren dafür betrugen 2.000 Dollar im Jahr. Da konnte ich mit 20 Dollar nicht weit kommen (so viel sei für diejenigen gesagt, die behaupten, alle Juden sind reich). Ich hielt es daher für die beste Entscheidung. ein Jahr zu warten und so viel wie möglich Geld zu verdienen. Dazu wollte ich nach New York City gehen, dort eine ganztägige Arbeit annehmen und möglichst noch eine halbtägige zusätzlich, um dann jeden Pfennig auf die Seite legen und mein Studium ein Jahr später beginnen zu können. Das schien mir eine glänzende Idee zu sein, aber Gott war davon nicht sehr beeindruckt. Er ließ mir deswegen keine Ruhe, und schließlich zeigte Er mir, daß ich das College sofort beginnen und Ihm die Sorge um die Gebühren überlassen sollte.
Im September 1962 ging ich ins Büro der Schule, ließ mich für den Kursus eintragen und kam mit einer Rechnung über 750 Dollar heraus, die nach vier Monaten zum Ende des ersten Semesters zu bezahlen war. Andernfalls hätte ich mein Studium nicht fortsetzen dürfen. Ich erinnere mich. wie ich den Korridor mit der Rechnung in der Hand entlang ging und betete: „Herr, Du hast mich veranlaßt, diesen Kursus anzufangen, und nun hast Du auch dafür zu sorgen, daß dieses Geld bis zum Tag der Fälligkeit da ist.“ Als dann das erste Semester zu Ende ging, hatte Gott nicht nur für die 750 Dollar gesorgt, sondern das College schuldete mir noch Geld! Mein nichtjüdischer Zimmergefährte erfuhr davon, denn er befand sich an dem Tag im Schulbüro. Er kam zu mir in die Cafeteria und sagte: „Junge, du bist wirklich ein richtiger Jude, nicht wahr?”
Bei sieben von den acht Semestern spielte sich dieselbe Geschichte ab. Immer am Semesteranfang schuldete ich die Bezahlung, und am Schluß schuldete das College mir Geld. Am Ende des achten und letzten Semesters ging alles gerade bis zum letzten Pfennig auf, und ich machte meine Abschlußprüfung in 1966. Die Kursusgebühren waren natürlich nicht meine einzigen Kosten, ich mußte ja auch Kleidung, Lebensmittel, Bücher und anderes kaufen.
Damals habe ich es zu meiner Gewohnheit gemacht und bin bis heute dabei geblieben, niemals meinen Bedarf öffentlich bekannt zu machen, auch nicht bei engen, persönlichen Freunden. Ich wollte sicherstellen, daß mir niemand aus irgendeiner Art von Sympathie Geld gibt, sondern nur, weil ihn der Herr dazu bewegt hat. Für die Dinge, die ich brauchte, habe ich immer privat gebetet, und der Herr hat sie mir immer verschafft. Stets ging das nötige Geld ein, manchmal von Menschen, die ich bis heute nicht kennengelernt habe, die Tausende von Kilometern entfernt wohnten. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie diese Leute von einem 1.62 m großen, jüdischen Jungen gehört hatten, der da auf einem Campus in New Jersey herumlief – aber Gott sorgte stets für mich.
Einmal als ich schon zwei Jahre auf dem College war, reiste mein Vater zum Besuch nach Israel und auf der Rückfahrt machte er Halt in New York, um mich zu besuchen. Als wir uns begegneten, bot er mir ein Auto an, die Bezahlung meiner College-Kosten und anderes, wenn ich meinen christlichen Glauben aufgeben wollte. Das konnte ich aber nicht tun. Trotzdem lud er mich für den Sommer nach Los Angeles ein. Ich fuhr hin und zunächst schien alles normal zu verlaufen. Aber bald danach machte er wieder seine negative Wendung zum totalen Schweigen. So ging es mit unseren Beziehungen ständig auf und ab. Während meiner College-Jahre in New York wurden in Kalifornien drei weitere Schwestern geboren, aber auch sie durfte ich monate- oder sogar jahrelang nicht sehen. Erst viele Jahre später normalisierte sich unser Verhältnis allmählich.
Nachdem ich das Zeugnis von der Wahrheit in Matth. 10,35 abgelegt habe, wonach es eine Trennung geben wird zwischen einem Menschen und seinem Vater, möchte ich auch die Wahrheit der Verheißung Jesu über die Erstattung bezeugen (Markus 10,29-30):
„Jesus sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verläßt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.“
Gemäß der Verheißung von Markus 10,30 gibt es in diesem Leben eine Erstattung für das, was wir durch den Glauben verloren haben. Nachdem ich von zuhause fortgegangen und ans College gegangen war, wurde ich von drei fremden Familien „adoptiert“. Das war keine rechtliche Adoption. aber sie geschah in jeder praktischen Hinsicht. Bis zum heutigen Tag nennen sie mich Sohn und ich nenne sie Mutter und Vater. Beim Abschluß des zweiten Semesters befanden sich drei Schlüssel an meinem Schlüsselbund. Einer paßte zu einem Haus in Levittown, Long-Island, einer zu einem Haus in Washington D.C., und der dritte gehörte zu einem Haus in Wildwood, New Jersey. Von jeder dieser Familien war ich als Familienangehöriger akzeptiert, und wenn ich in ihre Umgebung kam, dann hatte ich die Erlaubnis, in ihre Wohnung zu kommen und mich dort zu Hause zu fühlen, ob gerade jemand von ihnen anwesend war oder nicht. Bis heute nennen mich ihre Söhne und Töchter Bruder, und ich sage zu ihnen Bruder oder Schwester. Als ich das College abgeschlossen hatte, brachte die Familie in Wildwood, New Jersey, eine Annonce in die lokale Zeitung. Neben meinem Foto stand:
“Herr und Frau Charles Cattell geben den erfolgreichen Schulabschluß ihres Sohnes Arnold G. Fruchtenbaum bekannt.” Ich kann der Wahrheit gemäß sage, daß ich in diesem Leben mit Vätern, Müttern, Brüdern, Schwestern und Häusern versorgt wurde, genauso wie Jesus es verheißen hat.
Israel
Als ich das Studium am College beendet hatte, ließ ich mich für ein spezielles Programm der Hebräischen Universität in Jerusalem immatrikulieren, denn ich hatte schon lange den Wunsch gehabt, zum Studium nach Israel zu gehen. Der Kursus, an dem ich teilnehmen wollte, war ein Magisterstudium der Archäologie und der historischen Geographie, und er kostete 2.400 Dollar, zahlbar im voraus. Ich arbeitete den ganzen Sommer und sparte 800 Dollar, aber immer noch fehlten mir 1.600 Dollar. Zehn Tage, bevor ich den Flug nach Jerusalem buchen mußte, erhielt ich einen Brief von der Regierung der Vereinigten Staaten. Darin wurde mir mitgeteilt, daß man entschieden hatte, mir einen verlorenen Zuschuß (also den ich nicht zurückzahlen mußte) zu gewähren in Höhe von 1.624 Dollar – 24 Dollar mehr als ich brauchte, aber das war eben Regierungsbürokratie. An diesen Zuschuß war nur eine Bedingung geknüpft: er war nur gültig für ein Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Natürlich war ich überglücklich und mit dieser Bedingung einverstanden; den Brief habe ich bis heute aufgehoben Auf diese Weise war ich in der Lage, mein Studienjahr in Jerusalem zu absolvieren, und so wurde ich Augenzeuge des Sechstagekrieges im Jahre 1967. Als der Krieg ausbrach, wohnte ich nur vier Häuserblocks von der jordanischen Grenze entfernt. Zwei Monate nach diesem Krieg kehrte ich in die USA zurück und ging auf das theologische Seminar in Dallas, wo ich für vier Jahre blieb. Nach dem ersten Jahr heiratete ich.
Mary Ann
Ich begegnete meiner Frau zum erstenmal sieben Jahre bevor wir heirateten. Bald darauf fing ich an, ihr den Hof zu machen. Sie war eine halsstarrige Person, und ich brauchte sieben Jahre, bis sie einwilligte, mich zu heiraten. Sieben Jahre – das bedeutet, ich arbeitete genauso hart für meine Frau, wie mein Vorfahr Jakob für seine Frau arbeiten mußte. Allein diese Tatsache beunruhigte mich sehr. Besonders besorgt war ich aber, weil meine Frau zwei Schwestern hat! In einer jüdischen Hochzeitsfeier ist die Ehe in dem Moment geschlossen, wenn der Bräutigam ein Glas unter seinem linken Fuß zertritt. Davor kann er noch seine Meinung ändern, aber wenn das Glas einmal zerbrochen ist, gibt es kein Zurück mehr. Als mein Freund das Glas unter meinen Fuß schob, wagte ich einen raschen Blick hinter den Schleier, um auch wirklich sicher zu sein, daß ich das richtige Mädchen heiratete, und erst dann trat ich auf das Glas. Wer die Geschichte von Jakob kennt (1. Mose 29,16-30), der wird verstehen, warum ich das tat!!
Ein Jahr nach unserer Heirat erkannten meine Frau und ich, daß Gott uns wieder nach Israel führte, und wir wollten sehen, welchen Dienst wir dort tun könnten Im Jahr nach dem Hochschulabschluß arbeiteten wir beide, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Die wunderbare Versorgung, die wir bisher erlebt hatten, hörte für diese Zeit auf. Als die Zeit für die Reise nach Israel herankam, in der wir gemäß den Visabeschränkungen nicht arbeiten konnten, vertrauten wir erneut auf Gottes Versorgung. Auch diesmal machten wir dieselbe Erfahrung wie früher: Gott sandte uns alles, was wir brauchten, oft von völlig unbekannten Leuten. Wir arbeiteten zwei Jahre lang in Israel, zuerst mit einer sehr kleinen Anzahl von Personen, und später eröffneten wir ein kleines Bibelinstitut für die Ausbildung von israelischen gläubigen Christen. Hier waren es etwa 25 Studenten, Israelis und Amerikaner, die sich dreimal wöchentlich bei uns trafen. Das ärgerte die örtlichen „Pharisäer“. Sie beschwerten sich über uns bei der Regierung, und eines Tages mußte ich im Innenministerium erscheinen. Man teilte mir mit, daß ich keine Verlängerung meines Visums mehr beantragen könne, und ich wurde aufgefordert, das Land zu verlassen.
1973 kehrten wir wieder einmal in die USA zurück und gingen nach New York. Gott fügte es so. daß ich jetzt zwei Jahre lang der Herausgeber derselben Zeitschrift wurde, deren Titelblatt meine Mutter 1949 von dem Pfarrer in Deutschland erhalten hatte und das dann einen Anstoß dazu gab, daß ich zum Glauben kam. Während dieser zwei Jahre legte mir der Herr die Notwendigkeit einer neuen Art von jüdischer Missionsarbeit aufs Herz, in der die Betonung sowohl auf Evangelisation als auch auf Jüngerschaft liegt. Aber ich begann damals noch nicht mit einer ganz neuen Arbeit, sondern gab einfach die bisherige auf, nachdem ich einen Ruf erhalten hatte, in einem Radio-Programm mit Namen „Die christlich-jüdische Stunde“ zu lehren. Wir zogen um nach San Antonio in Texas, und ich wurde für zwei Jahre ein Mitarbeiter im Rundfunk. Dieser Dienst fand auf 35 Radiostationen statt, die über das ganze Land reichten. Viele Hörer nahmen mit mir Kontakt auf und äußerten ihren Wunsch nach einem Dienst, der gleicherweise Evangelisation und Jüngerschaft umschließt. Und so kam es, daß ich nach zwei Jahren diese Arbeit auch wieder verließ und 1977 ARIEL Ministries gründete. Sieben Jahre lang blieben wir in San Antonio, dann zogen wir um nach Tustin in Orange County, Südkalifornien, wo wir bis heute unseren Sitz haben.
Nachwort
Während meiner Reisen hatte ich jede Gelegenheit ergriffen, um mit dem evangelischen Pfarrer wieder Kontakt aufzunehmen, der meiner Mutter in Ulm die judenchristliche Zeitschrift gegeben hatte, durch die ich dann schließlich zum Messias geführt wurde. Mehrere Male hatte ich deutsche Zuhörer in meinen Klassen. Sie kamen nach Deutschland zurück und stellten Nachforschungen an für mich, aber alle schrieben dann, daß sie erfolglos geblieben waren. So gab ich am Ende auf und dachte, daß dieser Pfarrer nichts mehr erfahren würde von der Frucht seiner Arbeit, ehe wir alle einmal beim Herrn sein werden.
Außer meiner Lehrtätigkeit habe ich auch mehrere Bücher geschrieben, darunter eines mit dem Titel “The Footsteps of the Messiah” (Die Fußspuren des Messias). Zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung wurde es von einem deutschen Verleger gelesen. Es gefiel ihm, er ließ es ins Deutsche übertragen und veröffentlichte es unter dem Titel „Handbuch der biblischen Prophetie” (bei Schulte & Gerth). Kurz darauf kaufte es in Deutschland ein Mann, der von mir nichts wußte, aber sich dafür interessierte, was ein Judenchrist über das Buch der Offenbarung zu sagen hat. Er zeigte seinen neuen Erwerb auch seiner Frau, und die las darauf den Namen des Verfassers, .Arnold Fruchtenbaum”. Sie schrieb mir einen Brief und erklärte mir, daß sie und ihr inzwischen verstorbener Vater nach dem Ende des letzten Weltkriegs in einem D.P.-Lager in Ulm mit einer Familie namens Fruchtenbaum zu tun hatten. Dann nannte sie alle Namen meiner Familienangehörigen, die sie damals kennengelernt hatte. Es stellte sich heraus, daß ihr Vater wirklich der evangelische Pfarrer gewesen war, nach dem ich so lange gesucht hatte, und sie ist seine Tochter Hanna. Weil er nicht mehr lebte und sie durch ihre Heirat einen anderen Namen trug, war mein Suchen erfolglos geblieben. Im folgenden Jahr, 1985, unterbrachen wir in Deutschland unsere Rückreise von Israel nach Amerika, um sie zu besuchen. Dabei erzählte sie mir, daß sie regelmäßig für meine Errettung gebetet hatte, seit sie uns im Jahre 1949 in Deutschland begegnet war. Ich kam 1957 zum Glauben und wurde errettet, aber das wußte sie ja nicht. So setzte sie ihre beständige Fürbitte fort bis in die achtziger Jahre, als sie endlich erfuhr, daß ich gläubig geworden war. Das ist wahrlich ein Zeugnis von der Macht des treuen, anhaltenden Gebets.
Arnold G. Fruchtenbaum, San Antonio, Texas (www.ariel.org)
Anmerkung des Übersetzers. Der wissensdurstige Mann mit dem Buch von Arnold Fruchtenbaum bin ich. Damals sprach ich in einer evangelischen, landeskirchlichen Gemeinschaft fortlaufend über die Offenbarung. Da hat es mich natürlich interessiert, was ein Jude dazu meint. Hätte ich diesen Dienst nicht getan, so wäre ich wahrscheinlich nicht an dieses Buch geraten, und die Verbindung mit Arnold wäre nicht zustande gekommen. Und weil unser Herr das alles so gefügt hat, habe ich es auch als eine selbstverständliche Aufgabe angesehen, für die Verbreitung der ARIEL-Freundesbriefe usw. im deutschsprachigen Raum zu sorgen, so lange uns dazu die Möglichkeit geschenkt wird.
Manfred G. Künstler